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Das Kruzifix von Josef Rikus

Das Kruzifix von Josef Rikus entdeckte ich in einem Zeitungsartikel der Lippischen Landeszeitung über die Einweihung des Kirchenneubaus der katholischen Pfarrgemeinde St. Laurentius in Schieder in 2020.

Foto von Josef Rikus, Kruzifix Undatiert (19539 / unsigniert) Eiche mit getönter Lasur H ca. 177 – 185 cm B ca. 135 – 140 cm Schieder Kath. Pfarrkirche St. Laurentius
Josef Rikus, Kruzifix Undatiert (19539 / unsigniert) Eiche mit getönter Lasur H ca. 177 – 185 cm B ca. 135 – 140 cm Schieder Kath. Pfarrkirche St. Laurentius

Das auf den Querbalken reduzierte Kreuz mit der daran gehefteten Figur des gekreuzigten Christus hat mich überrascht und gleichzeitig tief berührt. Noch nie war mir eine solche Kreuzesdarstellung begegnet, noch habe ich ähnliches bei meinen weiteren Recherchen gefunden. Der Hingerichtete ist dargestellt mit ausgebreiteten Armen nur an einem Querbalken wie an einem Kreuz hängend. 

Ging es dem Künstler um das grausam Schockierende und Unerträgliche des Kreuzigungsprozesses? In seinen Ursprüngen war der eigentliche Zweck dieser antiken Hinrichtungsart, dem Menschen seine Würde zu berauben. Soldaten banden den entkleideten Verurteilten an den Armen auf einen Querbalken, das patibulum, oder nagelten ihn an. Dann wurde er mit diesem Balken in einen Baum gehängt oder auf einen vorbereiteten Balken gehoben und hängen gelassen, bis er verblutet oder an Kreislaufversagen verstorben war. Langsam musste es gehen zur Abschreckung und Steigerung der Todesqualen. Dies ging mir bei der Betrachtung des Kruzifixes als erstes durch den Kopf.  Aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass Josef Rikus das Zeichen unseres Glaubens für den Kirchenraum auf das Folterwerkzeug reduzieren wollte.

Kunst ist immer auch der Versuch, den Menschen aus seinen Sehgewohnheiten zu holen, zu hinterfragen und durch Verunsicherung zum Überdenken zu zwingen. Also beschäftigte ich mich mit der Figur.

Der Querbalken ist grob behauen, wie mit Beilen von den Folterknechten aus dem Stamm geschlagen. Ebenfalls grob eingeschnitten ist der Schriftzug „INRI“. Hingegen ist der Körper der Christusfigur sorgfältig geglättet. Kein Zeichen des Schmerzes befindet sich an ihr, nicht die Dornenkrone oder die Wunde in der Seite. Auch der waagerecht angelegte Mund zeigt kein Zeichen des Schmerzes. Diese Zeichen des Leidens hat der Künstler getilgt. Die Figur scheint von romanischen Vorbildern inspiriert zu sein: die Füße stehen nebeneinander mit angedeuteten Nagelspuren auf jedem Fußrücken. Die Augen sind geöffnet, eine Blickrichtung ist nicht zu erkennen. 

Die Hände krümmen sich um die in die durch die Handfläche getriebenen Nägel. Sie liegen nicht auf dem Querbalken auf, sondern in extra dafür geschlagenen Vertiefungen. Der Körper Jesu ist räumlich geometrisch und über die Frontalansicht gestaltet. Die Beine sind parallel und leicht angewinkelt gestellt. Das Lendentuch wird von Faltenstegen gerahmt. Der Brustkorb wölbt sich über dem eingezogenen Bauch. Anatomische Details wie Rippen und Muskeln fehlen. Die Arme sind diagonal ausgebreitet. Hinge Jesus am Kreuz, wären sie von dem Gewicht seines Körpers gestreckt. Tatsächlich sind die Arme leicht angewinkelt, als ob er den Balken trägt. Das ist für mich der Schlüssel zur Figur. Es handelt sich nicht um das Bild eines sterbenden Christus, sondern um ein Bild des Christus, der den Tod überwunden und besiegt hat. Er schwebt über allem Irdischen und macht damit die Überwindung des Todes am Kreuz deutlich. Diese Formfindung des Bildhauers Josef Rikus ist einzigartig und, wie ich finde, wirklich fantastisch.

Josef Rikus wurde am 28. Februar 1923 in Paderborn geboren. Nach dem Abitur wurde er zur Wehrmacht eingezogen und erlitt in Russland schwere Verwundungen. Demnach ist seine Kunst vor dem Hintergrund der geistig desaströsen Situation nach dem 2. Weltkrieg und den Erfahrungen von Diktatur und Krieg zu sehen, die prägend auf die Arbeiten des jungen Josef Rikus wirkten. Nach einem Studium der Philosophie und einer Steinmetzausbildung war er seit 1952 in Paderborn tätig. Seine Arbeiten sind in vielen historischen und modernen Kirchen und auf öffentlichen Plätzen zu sehen unter anderem in Paderborn und an der Gedenkstätte für sowjetische Kriegstote in Stukenbrock. Über die Grenzen hinaus wird er als Glied einer Kette herausragender Künstler gewürdigt, die auf einem geistigen Weg weiterführen. Er starb am 25. November 1989 in Paderborn.

Der Neubau der Kirche St. Laurentius in Schieder resultierte aus dem Wunsch der Gemeinde, einen Raum für das gemeindliche Leben zu schaffen. Der alte Kirchenbau wurde abgerissen, nur der Turm der alten Kirche blieb als Erkennungsmerkmal im Ort bestehen. Er ist heute als Vorraum, das sogenannte Paradies, gestaltet mit einer großen Schale, die als Weihwasserbecken oder Taufschale ausgestattet ist. Zu beiden Seiten des alten Turms wurden zwei Quader aus Beton gesetzt. Der eine beherbergt die neue Kirche, der andere das Gemeindezentrum. Das Rikus-Kreuz aus der alten Kirche wurde in den neuen Kirchraum übernommen. Sehenswert ist auch der neue Altar von Matthias Eder, der aus massiven quadratischen Betonscheiben gestaltet wurde.

Vielleicht halten Sie ja einmal an, wenn Sie das nächste Mal durch Schieder kommen und werfen einen Blick durch die Fenster im Paradies auf das ganz besondere Rikus-Kruzifix.

Karin Strate

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