Irgendwann kommt der Tag, da schnallst du dir das erste Mal einen Ranzen auf den Rücken und gehst zur Schule. Im Arm hältst du die Schultüte, die fast genauso groß ist wie du. Die Eltern gehen mit dir hin und bei manchen sind auch die Großeltern oder die Paten dabei. Vorher hast du Schule geübt im Kindergarten, am „Schulkinderprojekt“ der Kita teilgenommen oder wie immer die Übergangsgestaltung hieß. Du bist jetzt Schulkind, nicht mehr Kindergartenkind. In der Kita übtest du mit den Erzieherinnen das ruhige Sitzen hinter Tischen. Die Lehrerin hat vor dem Schulstart deinen Eltern eine Liste geschickt mit all den Sachen, die in den Ranzen gehören und die am ersten Tag keiner braucht und die du trotzdem mitnimmst.
Als Kind spürst du, dass das ein wichtiger Übergang ist von der Kita zur Schule, von Spiel und Spaß zum „Ernst des Lebens“, wie manche Erwachsene sagen. Es ist neu und ungewohnt und alle geben sich Mühe, damit der Übergang gelingt: die Erzieherinnen, die Lehrerinnen und die Familie.
Der Wechsel vom Kindergarten zur Schule ist für die meisten der erste Übergang, an den sie sich bewusst erinnern.
Übergangsritus („Les rites de passage“) hat der Ethnologe Arnold van Gennep diese Rituale genannt, die uns von einem in den anderen Zustand geleiten sollen. Sie helfen über die Schwelle, sie mildern den Schock des Neuen.
Mit der Übergangsritualbrille vor Augen finden wir viele Rituale und Übergänge, die gestaltet und rituell begleitet werden oder einfach an uns vorüberziehen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zähle ich ein paar Übergänge auf, die wichtig sind oder sein können: Geburt, Taufe, Einschulung, Wechsel auf die weiterführende Schule, Beginn der Menstruation, Konfirmation, Kommunion, Firmung, Schulabschluss, Lehre und Studium, Beginn einer Liebesbeziehung, Coming-out, Heirat und Scheidung, Eltern Werden, Einstieg ins Berufsleben, Umzug in eine andere Stadt, Stellenwechsel, Midlife-Krisis, Menopause, Ausstieg aus dem Berufsleben, Großeltern Werden, Ruhestand, auf Hilfe angewiesen Sein und Sterben.
Übergangsrituale sind wichtig.
In der Phase des Übergangs werden wir mit zahlreichen neuen Herausforderungen und Veränderungen konfrontiert. Übergangsrituale fungieren dabei als Wegweiser, die uns helfen, diese Veränderungen bewusst zu erleben. Obwohl sie in verschiedenen Kulturen und Religionen unterschiedlich interpretiert werden, ist ihr Zweck universell: uns bei der Anpassung an Neues zu unterstützen und uns eine gewisse Stabilität in der Veränderung zu geben.
Rituale begleiten uns durch das ganze Leben und sie helfen uns bei den Übergängen. Ich möchte das Übergangsritual am Beispiel einer Hochzeit verdeutlichen.
Am Anfang steht das Kennenlernen und die Liebe. Da gibt es Geschichten zu erzählen, wie die erste Begegnung war, bei welchem Anlass was gesprochen wurde.
Später dann wird die Partnerin, der Partner den Freundinnen und Freunden und der Familie vorgestellt und wenn Paare sich wohlfühlen miteinander, dann treffen sie die Entscheidung fürs Leben und zeigen der Welt ihre Liebe. Sie planen ein Fest und laden Gäste ein, mit ihnen ihre Liebe und ihren gemeinsamen Weg mit einem Fest zu feiern.
Die Art der Feier ist ein Ritual, was dazu dient, die Beziehung bekannt zu machen, die Familien und Freunde zusammenzubringen und sich frohgemut auf den neuen Lebensabschnitt einzulassen. Da das Ziel der Reise am Beginn nicht absehbar ist, wird oft auch um Gottes Segen für die Beziehung gebeten und ein Gottesdienst gefeiert. Die Zweierbeziehung wird dadurch zu einer Dreiecksbeziehung, wenn Gottes Segen für die Ehe erbeten wird. Zum einen dient die Trauung der Versicherung und Stärkung für den Weg, der vor dem Paar liegt. Zum anderen wird in ihr auch deutlich, dass das Gelingen nicht allein in der Hand des Paares, der Familie und der Freunde liegt.
Dabei wird auch deutlich, dass Religionen eine bedeutende Rolle in der Gestaltung von Übergangsritualen spielen. Ob Christentum, Islam, Buddhismus oder andere Glaubensrichtungen – jede Religion hat ihre eigenen Rituale, um Menschen in verschiedenen Lebensphasen zu begleiten. Diese Rituale bieten durch Gebete, Segnungen und symbolische Handlungen Trost und Orientierung.
Übergangsrituale sind keine abstrakten Konzepte, sondern konkrete Werkzeuge, um durch Veränderungen zu navigieren. Egal ob in religiösen Zeremonien, kulturellen Praktiken oder persönlichen Ritualen, sie spielen eine Schlüsselrolle bei der Unterstützung von Menschen in verschiedenen Lebensphasen. In einer Zeit des Wandels können individuell gestaltete Rituale dazu beitragen, die eigene Reise bewusst zu erleben und zu gestalten.
Letztlich ist eine Silvesterfeier auch ein Übergangsritual im Kleinen. Wir gehen in ein neues Jahr. Wir wissen nicht, was es uns bringen wird. Für manche, die feiern, wird es das letzte Silvesterfest sein. Im nächsten Jahr werden Niederlagen erlitten, Feste gefeiert und Abschiede begangen werden.
In den nächsten Ausgaben werden wir mit Ihnen über einzelne Übergangsrituale nachdenken und sie aus einer christlichen und einer emotionalen Ebene betrachten.
Björn Kruschke.