Andacht zur Jahreslosung von Frank Erichsmeier
…so stand es auf dem Schild, das der Pastor in den Kirschbaum gehängt hatte. Er hatte wirklich genug davon, dass immer im Hochsommer, wenn die süßen Kirschen so lecker und reif in seinem Kirschbaum hingen, irgendwelche Jungs – oder, wer weiß, vielleicht waren ja auch Mädchen dabei? – über den Gartenzaun stiegen und ihm den Baum leer pflückten. Selbst konnte und mochte er nicht die ganze Zeit aufpassen. Aber das Schild, das er an diesem Abend in den Baum gehängt hatte, würde den Kirschdieben hoffentlich Warnung genug sein: „Der liebe Gott sieht alles!“
Als der Pastor am nächsten Morgen in seinen Garten geht, findet er den Kirschbaum – fast leer gepflückt. „Verflixt,“ denkt er, „haben die Diebe denn das Schild nicht gesehen?“ Aber – da hängt es ja. „Der liebe Gott sieht alles!“ Und mit einer krickeligen Handschrift darunter geschrieben: „Aber er petzt nicht!“
„Der liebe Gott sieht alles!“ So lange ist es noch gar nicht her, da haben Eltern und andere Erziehungspersonen das gerne mal zu Kindern gesagt. „Ich“ – dein Vater, deine Lehrerin, dein Pastor – „ich kriege ja nicht immer alles mit, was du anstellst… Aber der liebe Gott, der sieht alles…“ Und nicht alle Kinder haben darauf so keck reagiert wie die Kirschendiebe. Manchem hat diese Vorstellung, von Gott immer und bei allem gesehen zu werden, ganz schön Angst gemacht. Und manche haben dann sogar später gesagt: Mit so einem Gott will ich lieber gar nichts zu tun haben…
Das finde ich schade. Denn eigentlich war es doch ganz anders gemeint. „Du bist ein Gott, der mich sieht,“ so hat das einmal eine in der Wüste gesagt, als sie ganz am Ende war. Hagar hieß sie, und sie war eine Sklavin. Sara, ihre Herrin, hatte sie gemein behandelt, ihr immer die ganze Arbeit aufgehalst: Feuerholz suchen, Mehl mahlen, Brot backen – und das, obwohl sie doch schwanger war. Da hatte sie es ein- fach nicht mehr ertragen, so erzählt es die Bibel, sie war in ihrer Verzweiflung davongelaufen von der Sippe Abrahams, bei der sie lebte, in die Wüste.
Und das, obwohl sie doch ganz genau wusste, dass das nicht geht, denn niemand kann alleine, ohne die anderen, in der Wüste überleben.
So wäre sie wohl gestorben – wenn Gott sie nicht gesehen hätte. Wenn Gott sie nicht gesehen, ihr seinen Engel gesandt, ihr einen Brunnen gezeigt hätte – und ihr schließlich auch geholfen hätte, trotz allem umzukehren zu ihrer Sippe. „Du bist ein Gott, der mich sieht,“ so betet Hagar es am Ende dieser Geschichte.
Erstaunlich, dass sich ihre Sippe diese Geschichte gemerkt und sie weitererzählt hat. Erstaunlich – und schön. Denn es ist eine Geschichte, die uns daran erinnert, wie Gott ist. Wie er immer noch und immer wieder ist – auch zu uns heute.
„Du bist ein Gott, der mich sieht.“ Dieses Gebet der Hagar begleitet uns in diesem Jahr als Jahreslosung. Auch wir dürfen das so zu Gott sagen wie Hagar. Und wir dürfen uns darauf verlassen: Gott sieht uns – auch wenn alle anderen uns übersehen. Gott sieht uns – auch wenn andere uns ungerecht behandeln. Gott sieht uns – auch dann, wenn wir einfach nur noch weglaufen wollen. Gott sieht uns – wir werden alle gesehen – wir sind nicht allein.
Frank Erichsmeier