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Benjamin Myers: Offene See

Fast bis zum Ende des Buches von Benjamin Myers fragte ich mich, was der Titel mit dem Buch zu tun habe. Wird eine aufgewühlte, Menschen verschlingende See im Laufe der Erzählung beschrieben werden, so wie es das Cover des Buches vermuten lässt? Gilt der Titel „Offene See“ als Metapher? Oder läuft die Erzählung auf einen Seefahrer hinaus, der die Weite des Meeres sucht, um den Menschen zu entkommen? Um es zu erfahren, müssen Sie sich in der Tat bis zum zehnten Kapitel vorwagen, um dann zu sagen: „Ja, doch, so etwas Ähnliches hatte ich erwartet!“

Myers erzählt in der Ich-Form die Geschichte des Robert Appleyard und beginnt mit den Gedanken des alten Mannes, der auf sein Leben zurück blickt. „Wo ist das Leben geblieben?“ fragt dieser sich. „In letzter Zeit tut mir alles weh, nicht nur die Füße. Die Beine, Hände, Augen. Die Handgelenke und Finger pochen, nachdem sie ein Leben lang auf Tastaturen herum gehämmert haben. Ich habe ein ständiges Ziehen im Nacken. Aber ich war einmal ein junger Mann, so jung und grün, und das kann sich nie ändern. Die Erinnerung erlaubt mir, es wieder zu sein.“

Und dann tauchen wir ein in das Leben des jungen Appleyard, der im Jahr 1946 mit 16 Jahren seine Heimat, ein Bergarbeiterdorf in Nordengland, verlässt, um nicht wie sein Vater schon bald in den Schacht einfahren zu müssen. Auch lastete die Nachkriegsstimmung seines Umfelds schwer auf Robert. „Ich war ein Kind, als er (der Krieg) begann, und ein junger Mann, als er zu Ende ging, und danach war Verlust allenthalben sichtbar, hing wie eine große Wolke über der Insel, und selbst noch so viele rot-weiß-blaue Flaggen und Orden, die den Überlebenden an die schluchzende Brust gesteckt wurden, konnten nichts daran ändern.“ Jetzt ist für Robert die Zeit der Freiheit gekommen, ihn lockt die Ferne.

Robert will mehr von der Welt sehen und läuft – ausgestattet mit Rucksack und Schlafsack – einfach los durch Täler, Wälder, Wiesen und Felder, verdingt sich als Wanderarbeiter auf verschiedenen Dörfern und landet schließlich am Meer. „Es war eine Wohltat, bergab in die sanfte Brise hineinzugehen, die vom Meer heranwehte. Die Luft roch nach der sich verändernden Jahreszeit. Die frische grüne Würze der Wildgräser und Schösslinge und der steigende Saft in den Bäumen erfüllten die gewundenen Straßen mit ihrem Duft.“ 

Ein von ihm gewählter Weg endet an einem verwunschen anmutenden Cottage, von dem man zum Meer hätte blicken können, wenn der Garten nicht so überwuchert gewesen wäre. Robert geht hinein und wird von einem deutschen Schäferhund angeknurrt. Diesem folgt eine ältere Frau, von der er sofort fasziniert ist. Sie ist völlig anders als die Frauen aus seinem Dorf. Sie ist knapp 1,80 m groß, trägt altmodische Kleider („vielleicht viktorianisch“) und wirkt auf ihn sehr würdevoll und selbstsicher. Sie stellt sich ihm als Dulcie Piper vor und bietet ihm einen Tee an. 

Robert bleibt schließlich viele Wochen bei dieser unkonventionellen Frau, die keine Lebensmittelmarken benötigt, aber stets mit allen Lebensmitteln versorgt wird. Er lernt, Hummer zu essen, Wein zu trinken, anspruchsvolle Gespräche zu führen, Bücher zu lesen und wird von Dulcie in die Welt der Literatur, der Kunst und der Musik eingeführt. Als Gegenleistung kümmert sich Robert um das Grundstück. Er rodet, streicht, repariert und räumt auf.

Auf dem Gelände befindet sich unter anderem eine zugewucherte baufällige Hütte, die Robert für sich selbst renovieren darf. Beim Aufräumen des Innenraumes findet Robert ein altes Manuskript voller Gedichte mit der Überschrift „Offene See von Romy Landau“ mit der Widmung „Für Dulcie“. Die Zeilen sind für Robert nicht ganz verständlich. 

„… und es gab Wörter und Bilder darin, die ich nicht verstand … In dem Moment entfalteten sich neue Gefühle von Verwirrung und Neugier in mir, vor allem jedoch ein überwältigendes, mächtiges Bewusstsein für den Raum, diesen Raum im Hier und Jetzt, als wären die Wörter über die Seite gekrochen und vom Papier gefallen und hätten mich umschlungen wie Ranken, die mich zurück in das Gedicht zogen, so dass die erdachten Zeilen und die reale Welt irgendwie zu einem tieferen Porträt von Land und Meer verschmolzen.“  

In diesen Gedichten liegt das Geheimnis von Dulcie und gleichzeitig die Zukunft von Robert. Die „Offene See“ ist das Ende einer Liebesgeschichte und der Beginn von Roberts Werdegang. Die Überschrift weist nicht auf einen Abenteuerroman hin. Es handelt sich nicht um ein Flutdrama und der Titel ist meiner Ansicht nach höchstens ansatzweise als Metapher zu verstehen. Auf jeden Fall ist das Buch gut erzählt und voll von bildhafter Sprache und eindrucksvollen, teilweise auch schwülstigen Naturbeschreibungen. Auf jeden Fall ein typisches „Myers“-Buch! 

Andrea Langhans 

Titel Benjamin Myers: Offene See
Titel Benjamin Myers: Offene See

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