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Kann man im Internet wohnen?

Das Internet ist in den letzten Jahren immer weiter gewachsen. Wo anfangs nur Text zu lesen war und nach und nach Bilder hinzukamen, kann man mittlerweile fremde Welten und virtuelle Realitäten erkunden. Bestimmte Gruppen unserer Gesellschaft schauen mehr YouTube als Fernsehen und andere spielen in ihrer Freizeit mit Tausenden anderen Spielern Onlinespiele. An Informationen zu kommen, ist so leicht wie nie. Diese allerdings zu bewerten und die richtigen und vertrauenswürdigen Daten heraus zu filtern, ist so schwer wie nie. Neben den tiefen Abgründen und dunklen Ecken des Internets stehen die neuen Möglichkeiten von Lernen, Vernetzung und schneller Hilfeleistung.

Das Internet – unendlich Möglichkeiten

Neben den offensichtlichen Folgen der Digitalisierung – dass etwa Jugendliche und junge Erwachsene scheinbar ohne Pause ihr Smartphone in der Hand halten – schleicht sich die Digitalisierung auch ganz leise in unser Leben und erleichtert und erschwert uns das tägliche Leben. Man denke an die weniger werdenden Bank- und Postfilialen oder die wunderbare Erfindung eines Defibrillators, der selbst unerfahrene Ersthelfer mit genauen
Sprachanweisungen durch die Versorgung von Herzinfarktpatienten führt. Ich denke auch an die Möglichkeiten für Familien, die räumlich getrennt leben müssen. Senioren um die 80 sind mittlerweile mit ihren Enkeln oder Urenkeln per WhatsApp oder Skype verbunden. Und selbst diejenigen, die während ihres Arbeitslebens nicht mit Computern in Kontakt kamen, können dank einfacher gewordener Bedienbarkeit am digitalen Leben teilhaben.

Und doch, ganz so weit, dass wir nur im Internet leben können, sind wir (glücklicherweise) nicht. Viele wichtige Dinge funktionieren einfach nicht per Netzwerk. Wir können dort noch nicht essen, uns nicht umarmen und auch die Übertragung für Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn steckt bestenfalls in den Kinderschuhen.

Vernetzung über Grenzen und Entfernungen hinweg

Trotzdem sind Erfahrungen möglich, die vor einigen Jahren kaum denkbar gewesen sind. Wir können uns mit VR-Brillen (VR = Virtuelle Realität) in Räumen am anderen Ende der Welt umschauen (oder einen Rundumblick vom Kirchturm wagen, obwohl wir ihn aus gesundheitlichen Gründen nicht besteigen können), wir können mit Personen Beziehungen aufbauen, obwohl wir uns noch nie im selben Raum befunden haben. Das erlebe ich immer mal wieder im sozialen Netzwerk Twitter. Da bekommt man oft Kontakt mit anderen Menschen und selbst eine Diskussion um das Leid in der Welt habe ich schon mit einem völlig fremden Menschen in jeweils 140 Zeichen langen Beiträgen geführt. Selten erlebe ich die Überraschung, dass dieser Mensch, mit dem ich mich manchmal über Monate hinweg nur über das Internet unterhalten habe, im „normalen“ Leben ganz anders ist. In den allermeisten Fällen machen wir nach einem ersten ungewohnten Moment in unserer Kommunikation genau da weiter, wo wir im Netz aufgehört haben und verstehen uns auch ohne Bildschirm zwischen uns ganz hervorragend. Im Internet wird man per se nicht plötzlich jemand anderes, aber man kann sich dort, genauso wie im physischen Leben, verstellen (im Internet natürlich noch deutlich leichter).

Ebenfalls deutlich einfacher im Internet ist die Suche nach Gleichgesinnten. Sei es schnelle Hilfe bei dem Stricken der Ferse eines Sockens oder eine Diskussionsgruppe zu einem ganz bestimmten Buch. Für manches, wie die Hilfe beim Stricken, kann man zweifellos auch innerhalb von wenigen hundert Metern Hilfe finden, wenn man sie denn aktiv sucht. Aber gerade, wenn es um spezielle Interessen geht oder auch bestimmte technische Fragestellungen, dann ist der nächste Experte vielleicht viele Kilometer entfernt. Das Internet ermöglicht es uns, zusammen zu rücken und Menschen mit gleichen Interessen zu finden. Und doch neigen viele dieser Menschengruppen, die sich online finden, dazu, sich auch offline treffen zu wollen. Etwa die Menschen aus der Facebookgruppe „Social Media und Kirche“ hatten vor einigen Jahren nur das Online-Diskussionsforum. Dann fand ein erstes kleines Treffen mit 60 Personen statt und mittlerweile gibt es diese Treffen vier Mal im Jahr an verschiedenen Standorten in Deutschland mit regelmäßig um die 100 Teilnehmenden. 

Abendandacht auf Twitter – #twomplet

Und es gibt auch Angebote, die ohne das Internet nicht funktionieren würden. Eine flächendeckende tägliche Abendandacht zum Beispiel, die Menschen mitbeten möchten, die etwa sonntags arbeiten müssen, oder denen die Gottesdienstform, die am Sonntag in der Nähe stattfindet, nicht zusagt – nicht jeder mag etwa Orgelmusik. Und erstaunlicherweise gibt es so etwas: Die sogenannte Twomplet (ein Kunstwort aus dem Abendgebet Komplet und dem sozialen Netzwerk Twitter) etwa findet seit über vier Jahren jeden Abend um 21:00 Uhr online statt und es beten zu besonderen Gelegenheiten bis zu Menschen mit. Das ist möglich, weil diejenigen, die solch ein geistliches Bedürfnis haben und sehr verstreut wohnen, einen Weg gefunden haben, dieses Bedürfnis mit dem Vehikel Internet zu befriedigen. Übrigens, die Twomplet ist komplett ehrenamtlich organisiert. 

Das Internet schafft Räume, die neues Engagement und bisher nicht dagewesene Formen spirituellen Lebens in Gemeinschaft ermöglichen. Das geht so weit, dass es Menschen gibt, die zwar nicht „das Internet“, aber ihren virtuellen Raum, in dem sie gemeinsam mit anderen beten und über den Glauben sprechen, als ihre spirituelle Heimat bezeichnen. Jetzt werden viele sagen: „Nein, das ist nichts für mich, das kann ich überhaupt nicht verstehen.“ Ja, das kann ich nachvollziehen. Und trotzdem sollten wir diesen Menschen, die eine Heimat im Internet gefunden haben, dieses Heimatgefühl nicht absprechen. 

Für mich ist Heimat da, wo ich mich zu Hause fühle; wo die Menschen sind, die mir wichtig sind. Und Orte, an denen ich schöne und intensive Momente mit anderen Menschen geteilt habe, wo ich in Erinnerungen schwelgen kann, das ist auch Heimat für mich. Seit einigen Jahren können solche Orte auch im Internet sein. Und in der Tat, für mich, der in seinem Leben zehn Mal umgezogen ist, gibt es mehr als einen Ort, den ich als Heimat bezeichnen würde. Heimat, das ist für mich Heiligenkirchen und Berlebeck, wo mein Elternhaus steht, wo ich zum Konfirmandenunterricht gegangen bin und Kinder- und Jugendarbeit erlebt und später selbst gestaltet habe. 

Heimat ist für mich aber auch ein winziger Ort in Schweden, der mir sechs Jahre in den Sommerferien bei Jugendfreizeiten zum Zuhause geworden ist. Und Heimat ist auch, in meine Twitter-Timeline zu schauen, einen Tweet abzusetzen und in freudiger Erwartung auf die Reaktionen und Antworten der Menschen zu warten, die mir über die Jahre ans Herz gewachsen sind. Ja, ich wohne im Moment in Belle auf dem Dorf – aber ich wohne auch im Internet, auch wenn ich ohne diesen Artikel diese Unterscheidung gar nicht machen würde. 

Trotz allem, wenn ich die Wahl hätte, würde ich meine Twitterfreundinnen und -freunde gerne viel öfter offline sehen, ebenso wie die, die an meinen zahlreichen Wohnorten zu Freundinnen und Freunden geworden sind.

Wolfgang Loest

Die Mail zum Sonntag

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