Die religiöse Landschaft in den Ländern des bis vor 27 Jahren kommunistisch beherrschten Ost- und Mitteleuropa ist vielfältig. Gehören Länder wie Tschechien oder Estland, aber auch manche Gegenden in Ostdeutschland, zu den am meisten entkirchlichten Regionen des Kontinents, gilt ein Land wie Rumänien – was Kirchenmitgliedschaft und religiöse Überzeugungen der Bevölkerung angeht – heute als eines der „christlichsten Länder Europas“:
Nur 0,2 % der Bevölkerung des Landes sind konfessionslos, über 90 % glauben Umfragen zufolge an einen persönlichen Gott. Obwohl 87 % der Einwohner orthodox sind, ist in dem Karpatenland auch die evangelische Kirche stark. 6,7 %
der Menschen in Rumänien sind evangelisch – wobei die Reformierten mit 3,2 % die größte protestantische Konfession darstellen. Immerhin 700.000 Menschen gehören also der evangelisch-reformierten Kirche Rumäniens an – nicht weniger als vor der Zeit der kommunistischen Zwangsherrschaft!
Die reformierte Kirche Rumäniens gehört so auf alle Fälle zu den großen evangelischen Kirchen Osteuropas. Daneben gibt es außerdem lutherische, pfingstlerische und evangelikale Gemeinden und – eine Besonderheit Rumäniens – Unitarier (so nennen sich Christen, die das Bekenntnis zur Dreieinigkeit Gottes ablehnen).
Die religiöse Vielfalt Rumäniens hängt zusammen mit der ethnischen Vielfalt des Landes. Sind die Lutheraner des Landes zumindest traditionell meist deutschsprachig (die berühmten „Siebenbürger Sachsen“, die heute allerdings zum größten Teil in Deutschland leben), ist die reformierte Kirche die nationale Kirche des ungarischsprachigen Bevölkerungsteils von Siebenbürgen. Gerade in vielen Dörfern Siebenbürgens gehört es in den Augen der Menschen immer noch zusammen: Ungar zu sein bedeutet reformiert zu sein – und reformiert zu sein bedeutet, ungarisch zu sprechen, zu beten und zu singen. Dies gibt der reformierten Kirche einen großen Rückhalt in der Bevölkerung Siebenbürgens, einem Landesteil, der jahrhundertelang zu Ungarn gehörte; ja erst 1920 infolge des Ersten Weltkrieges zu Rumänien gekommen ist – eine historische Entwicklung, der viele Angehörige der ungarischsprachigen Minderheit immer noch eher reserviert gegenüberstehen.
In jedem Fall identifiziert man sich mehr mit seiner Sprache und eben auch mit seiner Kirche als mit dem rumänischen Staat – auch und gerade in der reformierten Kirche gibt es einen ungarischen Patriotismus (und manchmal auch Nationalismus), der auf evangelische Partner aus dem Westen manchmal auch befremdlich wirken mag.
Dabei ist Siebenbürgen, die Heimat der reformierten Kirche Rumäniens, traditionell ein Land der Vielfalt und der Toleranz. Durch die türkische Eroberung im 16. Jahrhundert von Ungarn westlich des Grenzflusses Theiss geschieden, entwickelte sich Siebenbürgen zu einem selbständigen Staat an der bedrohten Grenze Europas, der seine Selbstbehauptung nach außen auch durch eine Versöhnung im Inneren zu sichern versuchte.
Ein Meilenstein dafür war das 1568 erlassene Edikt von Torda, das allen christlichen Konfessionen in Siebenbürgen die ungehinderte Freiheit der Verkündigung zusicherte. Während sich in anderen Ländern Europas in derselben Zeit der konfessionelle Gegensatz zu grausamen und langwierigen Kriegen verschärfte, entwickelten die Ungarn Siebenbürgens ein konfessionelles Miteinander, das diese Region bis heute prägt. Ein schönes Beispiel dafür ist die traditionell-pragmatische Regelung bei Mischehen in vielen Dörfern, bei der in vielen ungarischsprachigen Familien die Söhne zumeist in der Konfession des Vaters, die Töchter aber in der Konfession der Mutter getauft und erzogen werden, um keine Konfession von vornherein zu bevorzugen.
Wer heute die Reformierten in Siebenbürgen, eine der Partnerkirchen der Lippischen Landeskirche, besucht, kann eine starke, im Leben vieler Menschen fest verankerte Kirche erleben. In den Dörfern ist die Kirchengemeinde vielerorts noch immer das Zentrum der Gemeinschaft, der Pastor oder auch die Pastorin Ratgeber, Vorbild und Kümmerer in allen Lebenslagen. Wichtige Säulen des kirchlichen Lebens sind zudem die Bildung und die Diakonie. So betreibt die reformierte Kirche eigene Schulen und Bibliotheken, mit Hilfe auch deutscher Partner wurden nach 1989 in vielen Städten und Dörfern diakonische Einrichtungen wie Kinderheime und Sozialstationen gegründet.
Da Rumänien noch immer ein Land ist, das unter den Folgen der plötzlichen Transformation vom Staatssozialismus zum ungezügelten Kapitalismus leidet und auch viele staatliche Einrichtungen –
gerade im Bereich der Sozialfürsorge – noch immer nicht so arbeiten, wie es wünschenswert oder eigentlich um der Menschen willen notwendig wäre, leistet die Kirche mit ihren Einrichtungen hier einen immensen Beitrag für die Gesellschaft, und dies gerade an ihren armen und schwächsten Mitgliedern.
Frank Erichsmeier